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Unschuldsvermutung – freisprechendes Urteil – Verletzung des Art. 6 Abs. 2 EMRK

EGMR, Urteil vom 15.01.2015 – 48144/09 (Cleve v. Deutschland)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass auch ein freisprechendes Urteil gegen den in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen kann. Dies sei der Fall, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass das Gericht – trotz Freispruchs – den Angeklagten für schuldig hält.

Der Beschwerdeführer wurde im Ausgangsverfahren vor dem Landgericht Münster (1 KLS 5/08) zwar freigesprochen, das Gericht brachte jedoch in den Entscheidungsgründen unmissverständlich zum Ausdruck, dass es den Angeklagten für schuldig hält:

„So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist.“

Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (2 BvR 2499/08).

Der EGMR stellte jedoch fest, dass das Urteil den international geltenden Zweifelssatz „in dubio pro reo“ verletzt. Bei der Beurteilung, ob eine solche Verletzung vorliegt, komme es nicht nur auf den Tenor des freisprechenden Urteils, sondern auch auf die Urteilsbegründung an. Soweit sich aus den Urteilsgründen die Haltung des Gerichts dahingehend entnehmen lässt, der Angeklagte sei tatsächlich schuldig, so stünde dies im direkten Widerspruch zum Freispruch und verletze deshalb den Angeklagten in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 EMRK.

Der EGMR verurteile die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie Kostenersatzes in Höhe von insgesamt EUR 10.000.

Brehm & v. Moers

Rechtsanwältin Elena Metzger
Strafrecht Wirtschaftsstrafrecht Steuerstrafrecht
München

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