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Presserecht

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Verdacht mal anders!

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Verdachtsberichterstattung ist für die Presse eigentlich ein heikles Thema: Nach dem Strafgesetzbuch ist eine Negativberichterstattung, die nicht erweislich wahr ist, eine Straftat – nämlich Verleumdung (§ 186 StGB). Die Presse hat in der Praxis aber sehr häufig mit Behauptungen und Informationen zu tun, die sie zwar sorgfältig recherchiert hat, aber nicht im Sinne des Gesetzes vor Gericht „beweisen“ kann. Andererseits steht sie unter Veröffentlichungsdruck. Denn bis zum Vorliegen hieb- und stichfester Beweise  kann sie in der Regel nicht warten. Die Presse kommt aus diesem Dilemma nur deshalb wieder heraus, weil im Strafgesetz eine weitere Bestimmung gibt, wonach Veröffentlichung, die „zur Wahrnehmung berechtigter Interessen“ verbreitet wurden, nicht strafbar sind (§ 193 StGB). 

Zu diesen „berechtigten Interessen“ gehört die Presse- und Informationsfreiheit, so dass die Rechtsprechung Regeln entwickelt hat, wie die Presse mit Fällen umzugehen hat, in denen sie über Tatsachen berichten will, die sie tatsächlich nicht beweisen kann. Das Schlagwort heißt „Verdachtsberichterstattung“ und ist dann legitim, wenn sich die Presse an folgende Regeln hält:

  • Für die Behauptung muss ein Mindestbestand an Beweisen vorliegen, wie etwa Zeugenaussagen oder Urkundsbeweise, die den Verdacht stützen. Bloße Gerüchte und selbst  ein Anfangsverdacht im strafrechtlichen Sinne genügten insoweit bisher nicht.
  • Es muss eine den Umständen entsprechende, sorgfältige Recherche stattgefunden haben.
  • Es muss der betroffenen Person Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (sog. Gegenrecherche beim Betroffenen).
  • Es muss es sich um einen gravierenden Vorgang von öffentlichem Interesse handeln.
  • Schließlich darf die Berichterstattung keine Vorverurteilung enthalten und muss als Verdacht gekennzeichnet sein.

Die Kenntnis und Beachtung vorstehenden Punkte gehört zum Basiswissen jedes Investigativjournalisten. Für die Zukunft bedarf dies allerdings der Korrektur: Das Bundesverfassungsgericht hat in der vergangenen Woche entschieden, dass die Rechtsprechung die Messlatte für die Presse bislang  zu hoch gelegt hatte. Im Streit um die „Spiegel“-Wirecard-Berichte entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das (oben als erstes aufgeführte) Erfordernis des Mindestbestands an Beweisen nicht mehr – wie bisher – am Anfangsverdacht ausgerichtet werden darf, wie er für strafrechtliche Ermittlungen erforderlich ist. Dies sei ein „grundlegendes Fehlverständnis ... der Meinungsfreiheit“. Die Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung wird künftig nicht mehr „allein davon abhängig gemacht werden, dass ein bestimmter Grad an Wahrscheinlichkeit für die Begründetheit des Verdachts spricht“. Vielmehr gilt künftig für den (weiterhin erforderlichen) Mindestbestand an Beweisen, dass die „Qualität der Beweistatsachen grundsätzlich umso höher liegen muss, je schwerwiegender die Verdachtsäußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt“.

Das ist eine gute Nachricht für die Presse: Künftig muss sie bei der Verdachtsberichterstattung den Umfang der Beweise vor allem in Relation zur Schwere des erhobenen Vorwurfs setzen. Journalisten sind keine Staatsanwälte. Sie sind daher künftig nicht mehr in jedem Fall gezwungen, für einen Verdachtsbericht den Umfang an Beweisen zu recherchieren, der bei der Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseinleitung ausreichen würde.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2025/11/rk20251103_1bvr057325.html
 

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